Sonntag, 8. Dezember 2019

Bettina Kenter-Götte über ihr Sachbuch zum Thema Hartz IV

Titel des Buches: "„Heart's Fear. Hartz IV. Geschichten von Armut und Ausgrenzung

Quelle: Wikipedia

Auch im Prinzip ausgesprochen erfolgreiche Menschen kann Hartz IV treffen, und umso älter man wird, umso eher kann es einen auch treffen, selbst wenn man mal so gut davor war wie diese Frau.

Bettina Knter-Götte hat sich wieder gefangen, aber auch und vor allen Dingen aus krankheitsbedingen Gründen und Altersgründen eine schlimme Zeit hinter sich und sie schreibt, wer das nicht persönlich erlebt hat, was Hartz IV wirklich bedeutet, der glaubt einem das häufig gar nicht.

Mein Mann und ich glauben das, wir sind seit 12 Jahren Aufstocker und ich immer noch davon betroffen, obwohl ich schon recht lange Rentnerin bin, aber über die Bedarfsgemeinschaft darf ich mich nach wie vor über die Schikanen des Jobcenters schwarz ärgern.

Ich kopiere Euch mal Ausschnitte aus zwei Texten über die Erlebnisse von Bettina Kenter-Götte raus und ganz unten auch noch was darüber, wie erfolgreich diese Frau durchaus zwischendurch war.

https://www.sueddeutsche.de/politik/hartz-iv-sanktionen-arbeitslosigkeit-armut-1.4674013?utm_source=pocket-newtab

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Hartz IV:"Man kriegt auch Sklaven in die Gänge"

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Bettina Kenter-Götte arbeitet Jahrzehnte als Schauspielerin. Dann wird sie Hartz-IV-Empfängerin und erkennt: Die "Schreckenskammer der Gesellschaft" ist "absurd, brutal, menschenverachtend".
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Nach Jahrzehnten als Schauspielerin und Medienschaffende wurde Bettina Kenter-Götte krankheitsbedingt Empfängerin von Hartz IV - danach war ihr Leben geprägt von Angst vor Sanktionen.
Wenn diese Kürzungen mehr als 30 Prozent betragen, sind sie dem Bundesverfassungsgericht zufolge nicht zumutbar. Das Arbeitsministerium und die Bundesagentur für Arbeit hatten trotzdem weiterhin höhere Kürzungen geplant. Nach einem Bericht der SZ darüber erklärte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, Kürzungen von mehr als 30 Prozent werde es nicht mehr geben.
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Sie haben ein Buch geschrieben über Phasen in Ihrem Leben mit Hartz IV, am 12. Dezember lesen Sie daraus im Bundestag auf Einladung der Linken-Fraktion. "Heart's Fear" heißt Ihr Buch, Herzensangst. Bekommt man die als Hartz-IV-Bezieher?

Die Angst ist die größte Macht in dieser Schreckenskammer der Gesellschaft. Obwohl ich seit sechs Jahren nicht mehr im Hartz-IV-Bezug bin, war es erst nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, als sei ich aus dieser Schreckenskammer entlassen. Die Angst vor Sanktionen ist prägend für das Leben von Betroffenen. Das Jobcenter war der einzige Ort auf dieser Welt, wo ich mich nach den ersten Erfahrungen nicht alleine hingetraut habe - und ich war schon an sehr vielen Orten dieser Welt.
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Wie sind Sie denn in Hartz IV geraten?

Ich war dreimal betroffen, einmal als junge alleinerziehende Mutter, das war noch im alten Sozialhilfesystem, nach zehn Berufsjahren als Schauspielerin. Nach weiteren 25 Berufsjahren war ich während einer Branchenflaute kurze Zeit sogenannte Aufstockerin. Und schließlich war ich fünf Jahre krank. Als freie Bühnen- und Medienschaffende hatte ich keinen Anspruch auf Krankengeld und landete, als nach zwei Jahren meine Ersparnisse aufgebraucht waren, nach 40 erfolgreichen Berufsjahren bei der Armentafel und bei Hartz IV.
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Wer wird denn sanktioniert?

Nach offizieller Statistik werden acht Prozent der Hartz-IV-Beziehenden sanktioniert, oft mehrfach. Das sind übrigens nicht nur Arbeitslose. Es wurden und werden auch Menschen, die arbeiten, sanktioniert. Viele ALG-II-Beziehende sind aufstockende Niedrigentlohnte, Single-Mütter, die nicht arbeiten können wegen ihrer Kinder, pflegende Angehörige, Kranke, wie ich damals. Und sanktioniert wird nicht nur bei angeblichen Pflichtverletzungen, sondern auch nach Quote. Das weiß man seit dem Buch der Jobvermittlerin Inge Hannemann, "Die Hartz-IV-Diktatur".

Wie war es bei Ihnen?

Ich bekam einmal, weil ich angeblich eine Frist nicht eingehalten hatte, eine 100-Prozent-Sanktion. Diese Sanktion war schon nach damaliger Rechtslage rechtswidrig und musste zurückgenommen werden. Und eine Sanktionsandrohung bekam ich, weil ich einen Antrag auf Bedürftigkeit "zu früh" gestellt hatte. Danach wusste ich: Hartz IV ist absurd, brutal, menschenverachtend, kontraproduktiv und in weiten Teilen rechtswidrig. Es sind ja auch schon Menschen verhungert bei Vollsanktionen. Ich hatte in Stuttgart Theaterproben, da war ich noch nicht ganz gesund und im Bezug. Das Jobcenter hatte eine widerrechtliche Kürzung vorgenommen, Gage kam erst später, und da hab ich gehungert. Ein Freund ist nach Stuttgart gereist, um mit mir Lebensmittel einzukaufen. Geld hätte er mir nicht überweisen können, das wäre als Einkommen wieder abgezogen worden.
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30-Prozent-Sanktionen zur Sanktionierung von Pflichtverletzungen hat das Bundesverfassungsgericht aber als verfassungsgemäß eingestuft. Halten Sie das auch für absurd?

Wenn man über Pflichtverletzungen spricht: Die größte Pflichtverletzung liegt auf Seiten des Staates. Die Jobcenter haben über fast 15 Jahre Millionen von unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern verfassungswidrig behandelt. Das ist der schlimmste Rechtsbruch. Was sonst im Rechtsstaat undenkbar ist, war bislang in der Martermühle Hartz IV Alltag: Ohne Vorliegen einer Straftat, ohne Gerichtsverhandlung, ohne Urteil verhängt der Fallmanager des Jobcenters - als Ankläger, Richter und Vollstrecker in Personalunion - existenzbedrohende Strafen.

Kann man nicht, zumindest durch leichte Sanktionen, auch in die Gänge kommen, auch einen neuen Arbeitsplatz finden?

Jobcenter haben überhaupt keine guten Arbeitsplätze zu vergeben, das sind Resterampen für Niedriglohnjobs. Und es wird ein wahnsinniger Zwang ausgeübt, die schlimmsten Jobs anzunehmen oder unsinnige Maßnahmen über sich ergehen zu lassen. Zum Beispiel musste ich einen Buchhaltungskurs machen - nach 40 Jahren als Schauspielerin. Und ich musste einen Bewerbungskurs machen - nach 40 Jahren als Schauspielerin -, und noch dazu bei einer Frau, die in einer Mail sieben Fehler gemacht hat. Es war hanebüchen! Aber wenn ich gesagt hätte, das mache ich nicht, das ist Steuergeldverschwendung, dann wäre ich vollsanktioniert worden. Oder zu 60 Prozent. Ja, natürlich, man kriegt auch Sklaven in die Gänge, wenn man auf sie eindrischt, man kriegt auch Kinder in die Gänge, indem man auf sie eindrischt. Lange Zeit dachte man auch, man könne auf Frauen eindreschen, wenn sie nicht gehorsam sind. Diese Rohrstockpädagogik gehört dem Mittelalter an.
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Warum glauben Sie, dass unsere Gesellschaft das System Hartz IV trotzdem hinnimmt?

Weil kaum jemand weiß, was dort passiert. Und ich hoffe, jetzt wachen alle auf. Das Vertrackte ist, dass die einzelnen Geschichten oft so absurd und kompliziert sind, dass man sie nicht glaubt. Sogar ich habe die Erfahrung gemacht. Es waren die schlimmsten Momente überhaupt bei Hartz IV, wenn ich meine Geschichten meinen Freunden und Freundinnen erzählt habe, und sie haben mir nicht mehr geglaubt.
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https://www.hallo-muenchen.de/muenchen/suedost/muenchenharlaching-schicksalsschlaege-hartz-bettina-kenter-goette-spricht-ueber-leben-13015348.html

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Ihre Geschichte bewegt: Nach einer Krankheit lebte die erfolgreiche Schauspielerin Bettina Kenter-Götte von Hartz IV – nun spricht sie darüber in Harlaching.
Harlaching – Bettina Kenter-Götte weiß, wie es sich anfühlt, wenn man auf Spenden angewiesen ist. Die 68-jährige Schauspielerin kann sich genau daran erinnern, was für ein Gefühl das war, als sie das erste Mal in ihrem Leben Lebensmittel von der Tafel holte.
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„Es war sehr schwer erträglich“, sagt sie. „Ich hatte das Gefühl, mir schlägt die Armut von mehreren Jahrtausenden entgegen.“
Dabei hatte ihre Karriere erfolgreich begonnen: Sie stand stand mit Romy Schneider, Willy Millowitsch und Monica Bleibtreu vor der Kamera, war eine gefeierte und preisgekrönte Schauspielerin. Doch dann wurde Bettina Kenter-Götte, die im Umkreis Münchens lebt, schwanger. „Ich war von Anfang an alleinerziehend“, erzählt sie.
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Schicksalsschläge zehrten an finanziellen Rücklagen

Um sich um ihre Tochter zu kümmern, musste sie beruflich zurückstecken. Als sie Jahre später dann erkrankte – eine schwere Form von Rheuma sowie mehrere Operationen setzten sie beinahe fünf Jahre außer Gefecht – waren ihre finanziellen Rücklagen schnell aufgebraucht.
Und Kenter-Götte wurde zur HartzIV-Bezieherin. Erst nach einer Weile erkannte sie: „Die Beschämung kommt von außen. Um meine Würde zurückzugewinnen, musste ich darüber sprechen und der Armut eine Stimme geben.“ 
Verpönt sei es nämlich in ihrer Branche, über die schlechten Arbeitsbedingungen und Löhne zu sprechen – vor allem Frauen hätten es sehr schwierig. So begann die Schauspielerin zu schreiben. Unter anderem das Buch „Heart’s Fear – HartzIV – Geschichten von Ausgrenzung und Armut“, in dem sie diese schreckliche Episode in ihrem Leben verarbeitet hat. 
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Noch heute wird sie wütend, wenn sie an einige Situationen zurückdenkt. „Die Leute werden auch willkürlich sanktioniert – das sind Hungerstrafen“, schimpft sie. Wer Anträge nicht fristgerecht oder auch zu früh einreicht wird demnach sanktioniert – und bekommt weniger Geld. Betroffen sind nicht wenige: Allein in München leben mehr als 47 500 Menschen von Hartz IV.

Erzählungen ihrer Leser bewegen sie zutiefst

Die Geschichten, die Menschen ihr auf ihrer Lesereise erzählt haben, sind noch schlimmer, erzählt sie und denkt zum Beispiel an eine junge Frau, die im fünften Monat schwanger war. „Da hat ihr Fallmanager ihr doch glatt gesagt, sie solle jetzt noch nicht daran denken, Babyausstattung zu beantragen – es könnte ja eine Totgeburt werden.“
Für Bettina Kente-Götte zumindest ist jenes Kapitel abgeschlossen. „Heute bin ich gesund, habe deshalb auch wieder gut zu tun, bekomme außerdem Rente – und 2015 habe ich sogar geheiratet“, erzählt sie. Kennen gelernt hat sie ihren Mann übrigens auf einer Veranstaltung zu HartzIV – ein Journalist, der sie interviewen wollte.
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Bettina Kenter-Götte (* 10. März 1951 in Wiesbaden) ist eine deutsche Schauspielerin, Autorin, Synchronsprecherin, und Regisseurin.
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Bettina Kenter setzt sich seit geraumer Zeit gegen den Sozialabbau im Medienbereich und für die Enttabuisierung der zunehmenden Armut bei Bühnen- und Fernsehschaffenden ein. In der ZDF-Fernsehsendung 37 Grad vom 4. Oktober 2011 sprach sie sehr offen über ihre damalige Armut, bedingt durch eine längere Krankheitspause und dem geringen Rollenangebot für ältere Schauspielerinnen.[2]
2018 wurde ihr Buch „Heart's Fear. Hartz IV. Geschichten von Armut und Ausgrenzung“ veröffentlicht.[3][4][5][6][7] Kenter ist verheiratet und lebt im Großraum München. 
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 LG
Renate

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