Zu Sozialwohnungen ... oder ein offener Brief an Martin Schulz
Seit
1990 sind über 50 Prozent der Sozialwohnungen verschwunden. Pro Jahr
verschwinden weitere 45.000. Merkel und die SPD schauen diesem
Niedergang und den explodierenden Mieten nur zu. Gebraucht werden ein
Neustart und mindestens 5 Mrd. Euro jährlich für den sozialen
Wohnungsbau. Das ist die politische Schlussfolgerung aus einer Anfrage
von Caren Lay, MdB und stellvertretende Parteivorsitzende der LINKEN, an
die Bundesregierung. Weitere Informationen auf der
Website von Caren Lay.
Der
Armutsforscher Christoph Butterwegge, der am 12. Februar als Kandidat
der LINKEN bei der Wahl des Bundespräsidenten antrat und dort ein weit
beachtetes Ergebnis erzielte, ist im Jahr 2005 wegen der Agenda 2010 aus
der SPD ausgetreten. Jetzt hat er sich mit einem
Offenen Brief an Martin Schulz gewandt und den Kanzlerkandidaten der SPD aufgefordert, einen vollständigen Bruch mit Hartz IV zu vollziehen.
Diesen Offenen Brief an Martin Schulz übernehme ich mal hier rein:
SPD
Lieber Martin Schulz!
Christoph Butterwegge trat 2005 wegen der Agenda 2010 aus der
SPD aus. In einem offenen Brief an den SPD-Kanzlerkandidaten fordert er
eine Abkehr von Hartz IV.
26.02.2017 18:18 Uhr
Von Christoph Butterwegge
Kürzlich saßen Sie bei der Bundesversammlung neben mir in der ersten
Reihe. Wir haben beide die soziale Gerechtigkeit zum Leitbild unserer
politischen Arbeit erhoben, weshalb ich große Hoffnungen hinsichtlich
einer Veränderung der Regierungspolitik unseres Landes in Sie setze.
Illusionen bezüglich der Wandlungsfähigkeit einer Partei, aus der ich
2005 wegen der Agenda 2010, der Hartz-Gesetze und der Tatsache
ausgetreten bin, dass sie trotz einer rot-rot-grünen Bundestagsmehrheit
und der Möglichkeit einer Regeneration in der Opposition eine große
Koalition mit der Union bildete, hege ich gleichwohl nicht.
Mitglieder und Millionen frühere Wähler der SPD projizieren heute ihre
politischen Wunschvorstellungen auf Sie, obwohl sie die Parteiführung in
der Vergangenheit immer wieder enttäuscht hat. Auf mehrere Tausend
Neueintritte seit Ihrer – von Sigmar Gabriel schlau inszenierten –
Nominierung als Kanzlerkandidat und SPD-Vorsitzender können Sie stolz
sein. 1972, im Jahr des „Willy“-Wahlkampfes, wurden allerdings mehr als
100 000 Mitglieder unter 35 Jahren aufgenommen. Trotzdem hat die wenig
später mehr als eine Million Mitglieder zählende Partei momentan nicht
einmal mehr 500 000. Dass jedoch vor allem viele junge Menschen in die
SPD drängen, seit Sie Angela Merkel herausfordern, zeigt die enorme
Anziehungskraft solcher Ideale wie Solidarität und sozialer Gerechtigkeit zu einer Zeit, in der sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft.
Wie mir scheint, haben Sie die wachsende soziale Ungleichheit als
Hauptproblem der Gesellschaftsentwicklung erkannt, gehen aber nicht über
Andeutungen hinaus, wie die bestehenden Verteilungsverhältnisse
korrigiert werden können. Sonst müssten Sie mit Hartz IV auch den Kern
des Reformwerks infrage stellen, das Gerhard Schröder in seiner „Agenda
2010“ genannten Rede begründet hat. Die harten Zumutbarkeitsregelungen
und die drakonischen Sanktionen der Jobcenter vor allem für unter
25-Jährige sind nicht bloß für die Betroffenen entwürdigend, sondern
haben auch Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften genötigt,
schlechtere Arbeitsbedingungen und niedrigere Löhne zu akzeptieren. Ich
bin sehr gespannt auf Ihre Änderungsvorschläge dazu.
Was nützt den Erwerbslosen die von Ihnen ins Gespräch gebrachte
Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für Ältere, wenn ein Viertel aller
Neuzugänge überhaupt nicht in seinen Genuss kommt und die große
Mehrheit der Erwerbslosen bloß noch das Arbeitslosengeld II bezieht? Im
Rahmen des „Hartz IV“ genannten Gesetzespaketes wurde mit der
Arbeitslosenhilfe eine den Lebensstandard der Langzeiterwerbslosen noch
halbwegs sichernde Lohnersatzleistung, die 53 bzw. (bei Vorhandensein
unterhaltsberechtigter Kinder) 57 Prozent des letzten Nettoentgelts
betrug, durch eine Lohnergänzungsleistung auf Fürsorgeniveau, das
Arbeitslosengeld II, ersetzt. Dies war der mit Abstand schwerste
Eingriff in das Arbeits- und Sozialrecht der Bundesrepublik. Dazu kann
heute kaum schweigen, wer glaubwürdig für mehr Gerechtigkeit eintritt.
Zwar konzedieren Sie, dass die SPD im Rahmen der „Agenda“-Politik
bestimmte Fehler gemacht hat, die Sie nach Ihrer Wahl zum Bundeskanzler
korrigieren möchten. In Wirklichkeit war die Agenda 2010 aber selbst der
entscheidende Fehler und ihre Konzeption des „aktivierenden“
Sozialstaates grundfalsch, weil diese den Erwerbslosen unterstellt,
passiv und deshalb an ihrer Situation selbst schuld zu sein. Dagegen
beruht die Politik des aktiven Sozialstaates, wie man ihn bis dahin
kannte, auf der Erkenntnis, dass nicht die Betroffenen faul sind,
sondern das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, in dem sie leben.
Sie, verehrter Martin Schulz, beschränken Solidarität m. E. zu sehr auf
die Mitte der Gesellschaft und fordern Gerechtigkeit für „hart
arbeitende Menschen, die sich an die Regeln halten“, wie das schon Bill
Clinton tat, bevor er die US-amerikanische Sozialhilfe abschaffte.
Millionen Erwerbslose würden gern hart arbeiten, sind jedoch – manchmal
jahrzehntelang – durch ihre schlechte berufliche Qualifikation, eine
Betriebsschließung oder eine schwere Krankheit daran gehindert. Die
nächste – hoffentlich von Ihnen geführte – Bundesregierung sollte sich
zuerst um diese Erwerbslosen, sozial am meisten Benachteiligten und
Transferleistungsbezieher kümmern, weil alle Menschen – keineswegs nur
Berufstätige und Gesetzestreue – das Recht haben, in Würde zu leben.
Selbiges gilt natürlich für Kleinstrentnerinnen und Kleinstrentner.
Denen und Millionen Arbeitnehmern nützt die von Ihnen angekündigte
„Stabilisierung des Rentenniveaus“ wenig, weil sich Letzteres aufgrund
der unter Rot-Grün in die Rentenanpassungsformel eingefügten Dämpfungs-
oder besser: Kürzungsfaktoren der Armutsgrenze immer stärker annähert.
Erforderlich wäre die Rückkehr zum Rentenniveau der Jahrtausendwende,
als es 53 Prozent (heute: 48 Prozent) betrug und den Lebensstandard von
jahrzehntelang sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Ruhestand
noch halbwegs garantierte. Die kürzlich von der großen Koalition
beschlossene Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge schwächt die
gesetzliche Rentenversicherung weiter und liefert deren Mitglieder
erneut den Risiken der Kapitalmärkte aus, wo sich das auch vom
SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel beklagte „Riester-Desaster“ jederzeit
wiederholen kann.
Nötig ist die Absage an einen neoliberalen Gerechtigkeitsbegriff, wie
ihn der letzte SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück vertrat, als er 2003
eine Lanze für „Leistungsgerechtigkeit“ brach und diese Position kurz
vor der Bundestagswahl 2013 bekräftigte: „Soziale Gerechtigkeit muss
künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die
Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die
arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und
Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere
Gesellschaft erbringen. Um die – und nur um sie – muss sich Politik
kümmern.“ Nein, unser Sozialstaat muss sich um alle Menschen kümmern,
die Probleme haben, auch und gerade um solche, die wie
Schwerstbehinderte, Obdachlose und Drogenabhängige nicht als
„Leistungsträger“ im Steinbrück’schen Sinne gelten können!
In den jüngsten Meinungsumfragen liegt Ihre Partei zwar vor CDU und CSU.
Um die von Ihnen erzeugte Aufbruchstimmung bis zum Wahlsonntag am 24.
September 2017 zu erhalten, sind neben einem unverbrauchten,
sympathischen und humorvollen (Spitzen-)Personal jedoch ein attraktives
Programm, eine realistische Macht- bzw. Mehrheitsperspektive der SPD
sowie ein gemeinsames Projekt der künftigen Regierungspartner
erforderlich. Zusammen mit der Union wären soziale Gerechtigkeit und
eine Agenda der Solidarität selbst mit Ihnen als Bundeskanzler nicht zu
verwirklichen. Dazu bedarf es vielmehr einer rot-rot-grünen Koalition
und einer breiten außerparlamentarischen Bewegung. SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und Linke verbindet das Bekenntnis zu einer solidarischen
Bürgerversicherung, die – auf alle geeigneten Versicherungszweige
ausgedehnt – den Sozialstaat wieder auf ein festes Fundament stellen und
sich als gemeinsame programmatische Plattform einer R2G-Koalition
eignen würde.
Kaum ertönt Ihr Ruf nach mehr sozialer Gerechtigkeit mit der
realistischen Chance eines politischen Richtungswechsels, schon warnen
Lobbyisten, neoliberale Ökonomen und andere Bedenkenträger, der
„Standort D“ könne unter der Bürde steigender Sozialleistungen
zusammenbrechen. Angesichts der wütenden Reaktionen einzelner
Wirtschaftsverbände auf Ihre bisherigen Reformvorschläge benötigen Sie
mehr Mut, zu dem Frank-Walter Steinmeier nach gewonnener Wahl die
Deutschen in seiner Rede vor der Bundesversammlung aufgefordert hat.
Ohne weiterreichende Forderungen lassen sich nämlich auch im Falle Ihrer
Wahl zum Kanzler die sozialen Verwerfungen und politischen
Fehlentwicklungen seit der Jahrtausendwende nicht überwinden.
Mit solidarischen Grüßen
Ihr Christoph Butterwegge
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